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Gast-Interview mit Timm Urschinger

Selbstbestimmte Gehälter – verrückt oder ein tragfähiges Konzept?

 

Interview mit Timm Urschinger, CEO des Consultingunternehmens LIVEsciences

Das Thema Gehalt von Angestellten, Bezüge von Beamten oder gar Einkommen bei Selbstständigen ist – ganz abgesehen von der Diskussion um den Mindestlohn oder eine gendergerechte Bezahlung – im deutschsprachigen Raum eine heikle Angelegenheit. In vielen Unternehmen, ebenso wie unter Freunden oder im Familienkreis, ist es ein Tabu, darüber zu sprechen.

Doch gibt es einige wenige Firmen, in denen die Gehälter transparent sind, und Mitarbeiter selbst bestimmen können, wie viel sie verdienen. Wie bei der LIVEsciences AG, die nicht nur bei Kunden innovative Wege geht, sondern auch in der eigenen Organisation – was Strukturen und Strategien anbelangt – experimentierfreudig ist. Besonders spannend, weil in dem 20-köpfigen Berater-Team nicht alle Partner und/oder Senior-Berater sind, sondern Menschen mit unterschiedlichem Erfahrungslevel und einer Altersspanne von fast 30 Jahren aufeinandertreffen. Wir befragten Mitgründer und CEO Timm Urschinger, welche Erfahrungen sie im Team gemacht haben und was er Unternehmen empfehlen würde.

CAREERS LOUNGE präsentiert Gast-Interviews: Timm Urschinger

Herr Urschinger, Sie haben sich schon vor einigen Jahren intensiv mit selbstbestimmten Gehältern beschäftigt bzw. diese im Unternehmen eingeführt. Wie kam es zu dieser „verrückten“ Idee?

Timm Urschinger: Was wir als Berater von Anfang an nicht wollten, war ein klassisches Partner-Setup, sprich eine Selbstbestimmung der Gehälter über die Gewinnbeteiligung. Allerdings setzten wir als Unternehmen vom ersten Moment an auf Selbstorganisation, basierend auf Frederic Lalouxs Buch „Reinventing Organizations“ und den dort beschriebenen „Teal-Prinzipien".

Ich habe natürlich nicht immer in einem solchen Umfeld gearbeitet – und auch alle Kollegen waren zuvor in eher traditionellen Organisationen und Konzernen zuhause. Als Berater wurden in unseren früheren Leben vor LIVEsciences die Gehälter also auf eher traditionelle Weise vom Management festgelegt. Natürlich gab es immer mal Diskussionen, aber durch die Definition einer Menge KPIs sowie eine klare Dokumentation hatten zumindest die meisten den Eindruck, dass es wirklich eine mehr oder weniger faire Vergütung war. Nachdem wir unser Beratungsunternehmen selbstorganisiert aufgebaut hatten, spürten wir, dass dies nicht der richtige Ansatz war. Wir trafen uns mit anderen selbstorganisierten Unternehmen (Holacracy, Sociocracy, u.a.) und versuchten, von ihnen zu lernen, wie sie das schwierige und heikle Thema Gehälter und Vergütung angehen. Bereits 2016 und 2017 fanden wir einen ersten gangbaren Weg und um den Jahreswechsel 2018/19 hatten wir mit acht Leuten das Gefühl, dass wir etwas anderes machen sollten, das wirklich mehr selbstorganisiert und weniger konsensorientiert ist. Was wir von den anderen selbstorganisierten Unternehmen gelernt haben, war, dass es nicht DEN einen Ansatz für Gehälter und Vergütung gibt. Es war und ist auch heute ein Thema, das in allen Netzwerken immer wieder heiß diskutiert wird. Niemand scheint die Geheimformel zu kennen.

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Aber warum sind die Gehälter so kritisch und sensibel? Schließlich müssen wir doch alle unseren Lebensunterhalt verdienen.

Timm Urschinger: Ich habe in Organisationen – unabhängig von der Branche und Größe – die Erfahrung gemacht, dass es meistens gar nicht so sehr um den tatsächlichen Geldbetrag geht, der auf meinem privaten Bankkonto landet, sondern vielmehr um die subjektiv empfundene Fairness. „Mein Kollege, der viel weniger arbeitet, verdient mehr Geld als ich, das ist nicht fair!“ Solche Gedanken lassen sich wohl nie ganz vermeiden, aber man möchte zumindest nicht, dass sie sich negativ auf das Unternehmen oder die persönliche Motivation auswirken.

Frederick Herzberg geht in seiner Zwei-Faktoren-Theorie (auch Motivator-Hygiene-Theorie) von zwei Einflussgrößen aus: Die Motivatoren beziehen sich auf den Inhalt der Arbeit, die Hygienefaktoren auf den Kontext der Arbeit. Geld ist ihm zufolge immer nur ein Hygienefaktor. Der andere Grund ist natürlich die Anerkennung und Wertschätzung für all die Arbeit, die ich leiste.

Das Gehalt ist wahrscheinlich eine der größten Komponenten, die sich darauf auswirkt, ob ich mich vom Unternehmen und von meinen Kollegen wertgeschätzt fühle. Egal, ob ich das ganze Jahr über positives Feedback höre, ich werde wahrscheinlich nicht in der Lage sein, meine negativen Gedanken loszulassen, wenn sich die Wertschätzung nicht in meiner Vergütung widerspiegelt. Weil auch wir nicht vor solchen Gedanken gefeit sind, wollten wir diesem Dilemma aus dem Weg gehen und unsere Prinzipien als Teal-Unternehmen auch für die Gehaltsdefinition nutzen: selbstorganisiert, selbstverantwortlich und selbstbestimmt. In unserer LIVEline steht ohnehin, dass jeder als Unternehmer handelt und so war der Beschluss in einer unserer Governance-Sitzungen schnell getroffen.

Was nicht so einfach war, war die Diskussion darüber, inwieweit wir diktieren würden, wie der „Beratungsprozess" aussehen sollte oder sogar wie unsere Vergütung definiert werden sollte. Nur Grundgehälter? Boni, die anhand von KPIs berechnet werden? Nach Ermessen berechnete Boni? Dynamische Gehälter auf der Grundlage von Arbeitsstunden oder etwas anderem? Schließlich haben wir Folgendes beschlossen:

  • Jede/r entscheidet über sein Gehalt -> selbst festgelegte Gehälter
  • Der „Beratungsprozess" ist für die Vergütung so definiert, dass man sich von allen im Unternehmen (also sieben anderen Personen) beraten lassen muss, was man ihrer Meinung nach verdienen sollte.
  • Aufbauend auf dem „Jeder ist ein Unternehmer"-Prinzip sollte die Vergütung aus Grundgehalt + Risikobonus bestehen.
  • Der Risikobonus sollte nicht auf der Grundlage individueller KPIs berechnet werden, sondern auf der individuellen Risikobereitschaft und dem unternehmensweiten Erfolg des Jahres basieren. (Wir sitzen alle im selben Boot, warum also unterschiedliche Bonusniveaus haben?)

Und wie sah das in der Praxis aus? Wie haben Sie das Ganze dann konkret umgesetzt?

Timm Urschinger: Wir haben bei LIVEsciences besagten Beratungsprozess, den wir bei unseren Entscheidungen oftmals befolgen. Für die selbst gesetzten Gehälter haben wir uns darauf geeinigt, dass es (zumindest zu dem Zeitpunkt mit acht Leuten) Sinn macht, zu definieren, dass jeder jeden um Rat fragt – und wir haben uns darauf geeinigt, dies völlig transparent zu machen. Wir erstellten also ein Google-Sheet mit einer 8x8-Matrix, in der ich allen anderen und mir selbst Vorschläge unterbreiten würde. Dabei handelt es sich um eine Zahl, die das Monatsgehalt der betreffenden Person darstellt. Das bedeutet, dass ich eine Zahl für mich selbst eintrage (mein Gehalt, nur als Referenz und um sicherzugehen, dass ich nicht voreingenommen bin, wenn ich nur an mein Gehalt denke, wenn ich die Eingaben von allen anderen bekomme), und dann für alle anderen. Das hat bereits für einige Unruhe und Diskussionen gesorgt. Wie könnte ich jemandem, mit dem ich im vergangenen Jahr nicht viel gearbeitet habe, einen sinnvollen Rat geben?

Trotzdem hielten wir es für eine gute Idee, das zu tun, was oben beschrieben wurde. Eine subjektiv empfundene Fairness ist auch eher emotional als rational. Der zweite Schritt in unserem „Beratungsprozess“ war dann ein Treffen, bei dem wir nach dem Speed-Dating-Prinzip vorgingen. In unserem Fall „trafen" wir uns mit allen, die Ratschläge gaben, und denen ich Ratschläge gab. Dabei erzählte ich, wie ich zu dieser einen Zahl gekommen bin, die ich in das Sheet eintrug. Mein Gegenüber würde versuchen, meine Beweggründe zu verstehen – ohne darüber zu diskutieren, ob es diese für vernünftig oder richtig hält. Und umgekehrt. Einfach nur Fragen zu stellen, um Verständnis zu schaffen, anstatt zu diskutieren, ist in vielen Konstellationen eine wirksame Methode. In einem dritten Schritt des Prozesses dachte ich eine weitere Woche darüber nach, was sich für mich persönlich als Gehalt richtig anfühlte, und traf dann eine Entscheidung, die wir alle uns gegenseitig bei einem kurzen Treffen in der Woche nach unserem Speed-Dating mitteilten. Transparenz ist für mich ein entscheidender Faktor für das erfolgreiche Setup eines selbstorganisierten Teams.

Und was habt ihr im Team bisher in diesem Prozess gelernt? Beziehungsweise wo geht die Reise in Zukunft hin?

Timm Urschinger: Die Angst vor Ratschlägen für Leute, mit denen ich noch nicht viel zusammengearbeitet habe, war schnell verflogen. „Just do it" ist wahrscheinlich auch für diesen Teil des Prozesses ein guter Tipp. Interessanterweise hatten und haben wir keine große Spannweite bei unseren Zahlen. Die Vorschläge lagen alle ziemlich nah beieinander, aber die Gründe dafür waren oft sehr unterschiedlich. Ich denke, das spiegelte einfach unsere unterschiedlichen Werte, Erfahrungen und Vorlieben wider. Etwas, das in unserem Unternehmen vorher nicht transparent war, uns aber bisher viele gute Diskussionen und Erkenntnisse beschert hat. Auch heute mit einigen Jahren Erfahrung ist der risikobasierte Bonus immer wieder eine spezielle Herausforderung. Dafür hat sich der Beratungsprozess eindeutig bewährt und wir kommen im Vergleich zu früher immer schneller zu guten Entscheidungen. Das gilt übrigens auch für neue Mitarbeiter.

Trotzdem prüfen wir von Jahr zu Jahr, ob wir den Prozess beibehalten oder ob es Spannungen gibt und wir den Prozess wieder verwerfen oder etwas ganz anderes ausprobieren. Schließlich bedeutet Teal auch, flexibel sowie für neue kreative und innovative Lösungen offen zu sein. Deshalb bin ich auch immer an Erfahrungen anderer mit Gehältern und Vergütungen interessiert, um mehr für unseren Aufbau und Ansatz für die nächsten Jahre zu erfahren. Also gerne einfach melden unter timm.urschinger@livesciences.com

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